Über weite Strecken waren in innenpolitischen Diskussionen in Serbien im zurückliegenden Jahrzehnt geprägt von Auseinandersetzungen über das Erbe des Milošević-Regimes – dem ideologischen, politischen, institutionellen, sozio-ökonomischen, und damit über den Weg nachholender demokratischer und marktwirtschaftlicher Transformation, auf den sich das Land nach 2000 begab.
Fragen nach der Verbindung, der Verflechtung der regierenden und oppositionellen Parteien mit Strukturen des alten Regimes prägten die innenpolitischen Auseinandersetzungen. Dazu und daneben stellen Fragen von Korruption und Amtsmissbrauch ein weiteres, durchgehendes Thema im politischen Diskurs dar. Mit dem Aufstieg des SNS-Vorsitzenden Vučić zum neuen starken Mann der serbischen Politik ist die Bekämpfung der grassierenden Korruption endgültig ins Zentrum des politischen Diskurses gerückt.
Seit der Unabhängigkeit des Kosovo, der Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der EU und der Spaltung der Radikalen Partei sowie der Marginalisierung der ehemaligen Regierungspartei DSS 2008 ist unter der aktuellen Regierung der EU-Integrationsprozess zum bestimmenden politischen Thema der letzten Jahre aufgestiegen.
Infolge der Unruhen im Kosovo im Sommer 2011 sah sich Serbien von Seiten der EU mit Bedingungen auf dem Weg zur Erlangung des beantragten EU-Kandidatenstatus konfrontiert, die auf eine mittelfristige, de facto-Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo hinauslaufen.
Dadurch wurde die Frage des Verlusts des Kosovo, der Westanbindung und europäischen Integration zum bestimmenden Thema, in dessen Folge verstärkt nationalistische Töne wiederkehrten. Nach einer Unterbrechung durch den Wahlkampf 2012 wurde der Kosovo Anfang 2013 erneut zum alles dominierenden, und alle anderen innenpolitischen Fragen überschattenden Thema. Die neue Regierung gab dem gewachsenen Druck von EU und USA nach, schwenkte auf einen pragmatischen politischen Kurs ein mit der Bereitschaft, den Dialog mit Kosovo nicht nur fortzusetzen, sondern zu beschleunigen.
Im öffentlichen Diskurs verbanden sich so ein neuer Realismus hin zur Anerkennung des faktischen Verlustes der ehemaligen Provinz mit der damit verbundenen Aussicht auf eine mittelfristige EU-Mitgliedschaft. Nach diesem politischen Kurswechsel in der Kosovofrage verlor das Thema nach 2013 wieder an innenpolitischer Bedeutung, und wurde durch andere Themen abgelöst.
Die schwierige sozio-ökonomische Lage des Landes und die damit verbundenen Herausforderungen und Reformen in Wirtschafts- und Sozialpolitik waren schon im Vorfeld der Wahlen vom Mai 2012 zu bestimmenden innenpolitischen Themen aufgestiegen. In den ersten fast zwölf Monaten, die die neue Regierung im Amt war, wurden diese Fragen durch die historischen Verhandlungen über das Kosovo fast vollständig in den Hintergrund gedrängt. Doch schon unmittelbar nach Abschluss eines Abkommens zwischen Serbien und Kosovo drängten das Thema der schwierigen Haushaltslage und der damit verbundenen Frage von grundlegenden Wirtschaftsreformen zurück auf die politische und öffentliche Bühne.
Mit der Ukrainekrise 2014 rückte die außenpolitische Orientierung Serbiens zwischen EU-Integration einerseits und den traditionellen Beziehungen zu Russland andererseits ins Zentrum innenpolitischer Auseinandersetzungen. Vom Spätsommer 2015 bis zum März 2016 überschattete die europäische Flüchtlingskrise alle anderen innenpolitischen Themen. Seit dem Herbst 2017 sind es vor allem die in 2018 anstehenden, von der EU geleiteten Verhandlungen über ein umfassendes Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen Serbiens zum Kosovo, die die innenpolitische Diskussion bestimmt. Ende 2018 ist die Eskalation im Verhältnis zum Kosovo im Zusammenhang mit der serbischen Verhinderung eines Interpol-Mitgliedschaft Kosovos und den anschließenden Reaktionen Prishtinas (Verhängung von Strafzöllen, Armeegründung) das bestimmende innen- und außenpolitische Thema. Dieses Thema bleibt auch in der ersten Jahreshälfte 2019 das alles bestimmende.
Andererseits haben 2018 aber auch politische und soziale Proteste in den Mittelpunkt innenpolitischer Diskussion gedrängt. So fanden Mitte 2018 mehrtägigen Protesten von Autofahrern in mehreren Städten Serbiens gegen die seit Jahresanfang erheblich gestiegenen Spritpreise statt. Im Dezember 2018 wurden gewaltsame Ausschreitungen vonseiten von Anhängern der Regierungspartei SNS gegen den Oppositionspolitiker Borislav Stefanović zum Ausgangspunkt von monatelangen Bürgerprotesten gegen den autoritären Regierungsstil von Präsident Vučić und seiner Regierung, die bis Ende 2019 fortdauerten.
Aufstieg der SNS zur bestimmenden politischen Kraft Serbiens
Historischer Regierungswechsel im Sommer 2012
Unter schwierigen innen- wie außenpolitischen Bedingungen fanden am 06. Mai 2012 Parlaments und Präsidentschaftswahlen in Serbien statt. Die ohnehin nur durch die Unterstützung der LDP regierende Minderheitsregierung des parteilosen Premiers Cvetković wurde im Laufe ihre Mandats durch den Austritt kleinerer Koalitionspartner weiter geschwächt – zunächst durch die G17 Plus, und gegen Mandatsende der SPO. Die Politik von Präsident Tadić und seiner regierenden DS des „Kosovo und EU“ – des gleichzeitigen Anstreben eine EU-Mitgliedschaft und des Beharrens auf dem Kosovo als integraler Bestandteil des serbischen Staates – trotz der Anerkennung des Kosovos als unabhängigen Staat durch 22 der 27 Mitgliedsstaaten der Union – erlebte mit dem entschiedeneren Auftreten der EU nach den Unruhen im Kosovo im Sommer 2011 sein sichtbares Scheitern. Das Einlenken Belgrads in von der EU geführten Verhandlungen mit Pristina brachte Tadic und seiner Partei im März 2012 den für die anstehenden Wahlen so wichtigen EU-Kandidatenstatus. Trotz dieser außenpolitischen Dramatik dominierte die schlechte sozio-ökonomische Lage Serbiens und nicht der Kosovo den Wahlkampf.
Am 06. Mai 2012 wählten die Bürger Serbiens ein neues Parlament. Stärkste Kraft wurde mit 24% und 73 Parlamentsmandaten das Wahlbündnis der SNS, gefolgt von der DS mit 22% (67 Sitze). Zum überraschenden Wahlsieger wurde die SPS von Innenminister Ivica Dačić, die ihren Stimmenanteil mit 14,5% nahezu verdoppeln konnte (44 Sitze). Ins Parlament zogen neben den Vertretern der ethnischen Minderheiten von den kleineren Parteien noch die DSS mit 7% der Stimmen (21 Mandate), die LDP mit 6,5% der Stimmen (19 Mandate) und die URS mit 5% Stimmenanteil (17 Sitze) ein.
Da Präsident Tadić in Umfragen in seinen persönlichen Beliebtheitsraten durchgehend vor denen seiner Partei lag, entschied er sich im April für den Rücktritt, um den Weg für vorzeitige, parallel zu den Parlamentswahlen stattfindende Präsidentschaftswahlen frei zu machen. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen setzte sich Amtsinhaber Tadić knapp vor Herausforderer Nikolić mit 25,3% gegen 24,9% durch. Beide bestritten die Stichwahl am 20. Mai. Trotz vorheriger Führung setzte sich im zweiten Wahlgang am 20. Mai überraschend Herausforderer Tomislav Nikolić durch. Er errang 49,8% Stimmen, der geschlagenen Amtsinhaber 47,1% der abgegebenen Stimmen.
Der überraschende Ausgang der Präsidentschaftswahlen hatte die nach den Parlamentswahlen begonnenen Verhandlungen zwischen DS und SPS über die Bildung einer erneuten Regierungskoalition ins Stocken gebracht.
Nach mehrwöchiger Unklarheit über politische Ausrichtung der SPS erteilte Präsident Nikolić am 28. Juni deren Parteivorsitzenden Dačić das Mandat zur Bildungs einer Regierung mit der SNS und einigen kleineren Parteien, nachdem es der SNS mit dem Angebot des Postens des Premierministers an Dačić zuvor gelungen war, die SPS für eine gemeinsame Regierung zu gewinnen.
Mit diesem Wahlsieg und anschließender Koalitionsbildung entwickelte sich eine für die serbische Nachkriegsepoche, und Nach-Milošević-Ära historisch neue Situation. Erstmals bildeten mit der SPS und der Nachfolgepartei der SRS – der SNS – zwei Regimeparteien der 1990er Jahre wieder die Regierung. Diese Regierung brachte zugleich ein ungewöhnliches Dreiergespann von Präsident, Premier und Vize-Premier an seine Spitze. Präsident Nikolić hatte mit der Abgabe des Parteivorsitzes seine Position als eigentlich starker Mann (formal) abgegeben. Premier Dačić rückte auf die unter der Vorgängerregierung politisch schwache Position des Regierungschefs auf, obgleich Vorsitzender nur der kleineren Koalitionspartei; zugleich behielt er seinen Posten als Innenminister. Zum eigentlich starken Mann stieg überraschend der neue Vorsitzende der großen Koalitionspartei, der SNS, Vučić auf. Diese Machtfülle beruhte einerseits auf seiner Parteiposition, weniger auf seiner Funktion als neuer Verteidigungsminister; zusätzliche Macht eignete er sich durch die ungewöhnliche Funktion als Regierungskoordinator für Korruptionsbekämpfung sowie als Koordinator aller Sicherheitsbehörden an.
Entgegen ihrer Verwurzelung in der nationalistischen Kriegsära der 1990er Jahre, setzt die neue Koalition jedoch die Politik der EU-Integration der Vorgängerregierung fort. Zugleich schwenkte sie zur Überraschung vieler Beobachter (unter Beibehaltung nationalistischer politischer Töne) in der Kosovopolitik in eine – von EU und USA geforderte – Intensivierung des Dialogs mit Priština ein.
Regierungsumbildung
Am 02. September 2013, nur gut ein Jahr nach ihrer Bildung, wurde vom serbischen Parlament eine weitreichende Umbildung der Regierung verabschiedet. Vorausgegangen war ein monatelanges Tauziehen zwischen den drei Regierungsparteien SNS, SPS und URS, währenddessen auch vorgezogene Neuwahlen im Gespräch waren. Am Ende dieses Prozesses stand der Rauswurf des kleinsten Koalitionspartners, der URS, und eine Neuverteilung der Gewichte unten den verbliebenen zwei Regierungsparteien. Insgesamt wurden 11 neue Minister vereidigt, darunter 6 parteilose Experten – ein Novum in der neueren serbischen Geschichte. Mit der Teilung des vorherigen Superministeriums für Finanzen und Wirtschaft wurde ein zusätzliches Ministerium geschaffen. Während Vizepremier Aleksandar Vučić die Leitung des Verteidigungsministeriums abgab, behielt Premier Dačić den Posten des Innenministers. Unter den neuen Ministern ohne Geschäftsbereich wurde der Generalsekretär der SPS, Branko Ružić, mit dem EU-Integrationsprozess betraut, während der Regierungskoordinator für das Kosovo Aleksandar Vulin ebenfalls in den Ministerrang erhoben wurde.
Unklar blieben die Gründe für die Regierungsumbildung. Regierungschef Dačić und Stellvertreter Vučić begründeten den Schritt mit der unzufriedenstellenden Leistung eines Teils der Minister, vor allem aber als Ausdruck eines entschiedenen Reformwillens in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Für diesen steht die Benennung des 29-jährigen, parteilosen Yale-Absolventen Lazar Krstić. Einen nicht weniger wichtigen Grund dürfte das Interesse der SNS gespielt haben, dass ihre dominierende Machtposition in der Verteilung der Ministerien deutlicher zum Ausdruck kommt.
Die Regierungsumbildung fand zu einem Zeitpunkt statt, als innenpolitische Themen und die zentralen Reformanforderungen zurück ins Zentrum des politischen Geschehens rückten. Dies war der Fall, nachdem es der Regierung gelungen war, wichtige Weichenstellung in der EU-Integration und dem Konflikt um das Kosovo zu unternehmen.
Vorgezogene Neuwahlen 2014 – Vučić’s Triumph
Auf dem Kongress der SNS beschloss die größere der beiden Regierungsparteien am 26. Februar 2014 auf Vorschlag ihres Vorsitzenden und Vizepremier Aleksandar Vučić das Abhalten vorgezogenen Parlamentswahlen für den 16. März desselben Jahres. Der Entscheidung ging der erfolgreiche Abschluss einer Etappe in Serbiens EU-Integrationsprozess voraus sowie monatelanger innerparteilicher Druck auf den Vorsitzenden. Die Partei erhoffte sich infolge der außerordentlichen Popularität der SNS und ihres Vorsitzenden, nach der Wahl das Amt des Premiers zu übernehmen und vielleicht sogar die absolute Mehrheit an Stimmen bzw. Parlamentssitzen zu erlangen.
Der Entscheidung folgte ein kurzer aber intensiver Wahlkampf. Dieser war geprägt von heftigen gegenseitigen Attacken zwischen den Regierungsparteien und den Oppositionsparteien sowie untereinander. Da sich fast alle parlamentarischen Parteien in Serbien einig sind über den grundlegenden politischen Kurs Serbien, der durch den EU-Beitrittsprozess weitgehend vorgegeben ist (einzig die DSS und einige extrem rechte, außerparlamentarische Parteien vertreten eine anti europäische politische Positionen), konzentrierte sich der Wahlkampf auf persönliche Angriffe der politischen Gegner. Programmatische Unterschiede blieben undeutlich. So blieben für den Wähler nicht nur die parteipolitischen Alternativen unklar, unklar blieb für diesen auch der Grund, warum es überhaupt zu Neuwahlen gekommen war.
Im Lager der demokratischen Opposition formierte der ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Partei Boris Tadić innerhalb kürzester Zeit eine neue Partei als Abspaltung von der DS und nachdem es ihm zuvor nicht gelungen war, dessen Vorsitzenden Đilas zu stürzen und sich erneut an die Parteispitze zu setzen. Die Partei, die Neue Demokratische Partei (NDS), die nach den Wahlen ihren Namen in Sozialdemokratische Partei (SDS) umänderte, und ihr Vorsitzender Tadić lies es im Unterschied zur DS im Wahlkampf offen, ob sie für den Fall des Einzugs ins Parlament offen wäre für eine Koalition mit der SNS.
Die Parlamentswahlen vom 16. März 2014 gerieten zum Triumphzug für den neuen starken Mann Serbiens, Alexander Vučić. Die SNS erreichte mit 48 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Der ehemalige Koalitionspartner SPS erreichte mit 13 Prozent das zweitbeste Ergebnis. Die Demokratische Partei kam mit nur 6 Prozent auf ihr historisch schlechtestes Ergebnis überhaupt. Die neue Partei von Boris Tadic NDS erreichte mit 5,8 Prozent der Stimmen ebenfalls den Sprung über die 5-Prozenthürde. Ansonsten erreichten nur noch die Parteien der ethnischen Minderheiten, welche von der Hürde befreit sind, den Einzug ins Parlament. Damit fiel eine ganze Reihe langjähriger parlamentarischen Parteien aus der serbischen Volksvertretung: die LDS, die URS sowie die DSS
Mit dem Wahlergebnis stand fest, dass Alexander Vučić neuer Premierminister Serbiens werden würde. Trotz absoluter Mehrheit an Parlamentssitzen – 158 von 250 – kündigte der SNS-Vorsitzende an, dass er Koalitionsverhandlungen mit den anderen parlamentarischen Parteien führen wolle, um eine möglichst breite parlamentarische Basis für die zukünftige Regierung zu schaffen, auf der grundlegende Reformen durchgeführt werden können. Der SNS fehlten nur wenige Parlamentsmandate zur Erlangung der verfassungsändernden 2/3-Mehrheit. Doch auch die Option einer SNS-Alleinregierung wurde vom Wahlsieger nicht ausgeschlossen. Letztendlich entschloss sich die SNS doch für eine Koalitionsregierung – und zwar erneut mit der SPS sowie einer kleineren Partei der ungarischen Minderheit. Am 27. April 2014 wurde die neue Regierung unter Ministerpräsident Vučić mit 198 Stimmen ins Amt gewählt. Der SPS-Vorsitzende Ivica Dačić wurde stellvertretender Ministerpräsident und neuer Außenminister Serbiens, seine Partei erhielt drei der nun 18 Ministerien.
Neuerliche vorgezogene Wahlen in 2016
Nach monatelangen Spekulationen kündigte der serbische Premier Aleksandar Vučić im Januar 2016 vorgezogene Parlamentswahlen für das Frühjahr desselben Jahres an. Damit fanden nach 2014 zum zweiten Mal frühzeitige Wahlen in der Mitte der Legislaturperiode statt, obwohl die regierende Koalition über eine stabile Mehrheit verfügte, und damit de facto eine Rechtsgrundlage für den Urnengang fehlte. Erneut blieb der Ministerpräsident seinen Bürgerinnen und Bürgern eine schlüssige Begründung für diese Entscheidung schuldig.
Vučić erklärte in der Öffentlichkeit, er benötige ein Vierjahresmandat für die anstehenden Reformen auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft – ein solches hatte er jedoch bereits 2014 von den Wählerinnen und Wählern erhalten. Vermutlich hatte der Schritt von Vučić zwei Hauptgründe: ersten wollte er eine erneute Bestätigung vor in 2016 anstehenden, schmerzhaften wirtschaftspolitischen Maßnahmen; zweitens zielte er mit den Parlamentswahlen auf eine Stärkung seiner Partei SNS bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen und den Wahlen in der Autonomen Provinz Vojvodina ab.
Der Wahlkampf wurde von der SNS und der Omnipräsenz ihres Vorsitzenden mittels Ausspielens der Medienmacht der Regierung dominiert. Inhaltlich fokussierte sich Vučićs Wahlkampf auf zwei Kernbotschaften – Kontinuität bei Wirtschaftsreformen, EU-Integration und regionaler Zusammenarbeit und Ausbau der Machtposition der SNS durch ein Wahlergebnis von 50-Plus Prozent Stimmenanteil. Die demokratische Opposition scheiterte im Versuch, sich auf ein gemeinsames Wahlbündnis zu einigen. Stattdessen trat sie mit zwei Blöcken an – dem Bündnis der DS mit einigen kleineren Parteien, und einem erstmaligen Bündnis von SDS und LDP der ehemals verfeindeten Parteivorsitzenden Boris Tadić und Čedomir Jovanović. Außerdem beteiligte sich der ehemalige Wirtschaftsminister Saša Radulović mit seiner Bewegung „Genug ist genug“ zum zweiten Mal an der Wahl. Auf der extremen Rechten hoffte die Radikale Partei SRS auf eine triumphale Rückkehr ins Parlament. Sie gründete diese Hoffnung auf die Rückkehr ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Vojislav Šešelj auf die politische Bühne.
Dieser war Ende 2014 aus gesundheitlichen Gründen vom UN-Kriegsverbrechertribunal vorläufig nach Hause entlassen worden. Mitten im Wahlkampf, am 31. März, verkündete das Tribunal sein Urteil gegen Šešelj und sprach diesen überraschend in allen Anklagepunkten frei.
Der am 24. April stattgefundene Urnengang, der wegen Unregelmäßigkeiten in einigen Wahlbezirken am 4. Mai widerholt werden musste, bestätigte die Regierungsparteien, und brachte dennoch nicht das vom Premier erhoffte Ergebnis. Die SNS erreichte mit 48,25 Prozent der Stimmen ein nahezu identisches Ergebnis wie 2014, und ihre Koalitionspartner SPS verlor leicht und kam auf 11 Prozent. Doch gleichzeitig schafften diesmal gleich 5 weitere Wahlbündnisse/Parteien im Unterschied zu nur 2 in 2014 den Einzug in das Parlament. Die DS erreichte unverändert 6%, das Bündnis der SDS mit der LDP schaffte es mit 5,03% knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Überraschend gewann die Bewegung „Genug ist genug“ 6 %. Auf der politischen Ultrarechten kehrte die SRS mit 8% in das Abgeordnetenhaus zurück; und das Bündnis aus DSS und Dveri hielt mit erzielten genau 5% Stimmenanteil nach zwei Jahren ebenfalls erneut Einzug in die Volksvertretung.
Durch den Einzug so vieler Parteien ist die Anzahl der Parlamentssitze von SNS (131) und SPS (30) deutlich geschrumpft.
Auf der lokalen Ebene ging die Rechnung von Premier Vučić auf: In der Vojvodina verlor die oppositionelle DS nach 16 Jahren die Macht an die SNS, die aus dem Stand die absolute Mehrheit an Sitzen im Regionalparlament errang.
Trotz des relativ klaren, erneuten Wahlsiegs der SNS unter ihrem Premier Vučić zog sich die Regierungsbildung diesmal ungewöhnlich lang hin: erst am 11. August wählte das serbische Parlament die gleiche Regierungskoalition erneut ins Amt. Wie bereits bei den vorgezogenen Neuwahlen wurde die Öffentlichkeit auch über die Gründe für die schleppenden Koalitionsverhandlungen im Dunkeln gelassen. Premierminister Vučić wechselte insgesamt 8 seiner bisherigen Minister aus – darunter einen seiner Vertrauten, Justizminister Selaković und den für die anstehenden Wirtschaftsstrukturreformen so wichtigen Wirtschaftsminister Serdić — ebenfalls ohne jegliche Erklärung der Gründe. Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Ivica Dačić, blieb Außenminister und Vizekanzler.
Premier Vučić gewinnt die Präsidentschaftswahlen 2017
Mitte 2017 endete die fünfjährige Amtszeit des Staatspräsidenten Tomislav Nikolić. Bereits Ende 2016 bestimmten die noch terminlich festzulegen Präsidentschaftswahlen die politische Bühne und deuteten eine Krise des bisher unangefochtenen Regimes von Premierminister Vučić an, verbunden mit der Ankündigung Nikolićs, erneut anzutreten. Dem nach der Abgabe des SNS-Parteivorsitzes weitgehend politisch durch den Premierminister marginalisierten Nikolić setzte die demokratische Opposition Bemühungen zur Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten entgegen, dem Umfragen erstmals reale Siegchancen attestierten. Zugleich traten ideologische Differenzen zwischen Präsident und Premier offen zutage, von denen in den zurückliegenden Jahren unklar blieb, ob sie real sind oder Teil politischer Taktik. Premier Vučić geriet so zum ersten Mal in die politische Defensive: weil er in den vergangenen Jahre verhindert hatte, dass neben ihm andere Parteifunktionäre und Regierungsmitglieder an politischem Profil und Macht gewinnen, lief die Wahl eines Gegenkandidaten der SNS Gefahr, bei den Wahlen gegen Nikolić oder einen potentiellen Oppositionskandidaten zu unterliegen. Vučićs einzige sichere Option – selbst bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten – war mit der Herausforderung verbunden, das Machtzentrum von der Regierung ins Präsidentenamt zurück zu verlagern, wie das unter Präsident Tadić der Fall gewesen war.
Anfang 2017 war noch immer unklar, für welchen Ausweg aus der politischen Zwickmühle sich der Premierminister entscheiden würde. Zugleich waren die demokratischen Oppositionsparteien gescheitert, sich auf einen einzigen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Mitte Februar 2017 erklärte sich Premier Vučić schließlich für eine Kandidatur und der Parteivorstand nominierte ihn einstimmig. Über eine Woche nach der Entscheidung sah es nach einem offenen Bruch zwischen Premier und Präsident und nach einer Kampfkandidatur Nikolićs gegen Vučić. Erst dann erklärte der Präsident seinen Rückzug.
Der erste Durchgang der Präsidentschaftswahlen fand am 2. April 2017 statt. Sie endete mit einem Triumpf für Vučić, der ohne eine Stichwahl bereits in der ersten Runde die erforderliche absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erzielte. Laut dem offiziellen amtlichen Endergebnis erzielte Aleksandar Vučić 55% der abgegebenen Stimmen. Zweitplatzierter war mit 16,4% der ehemalige Ombudsmann Serbiens, Saša Janković, der von der Demokratischen Partei (DS) und Teilen der Zivilgesellschaft unterstützt wurde. Einen Achtungserfolg erzielte drittplatziert mit 9,4% der bis zur Präsidentschaftswahl unbekannte Luka Maksimovic, der unter dem Spitznamen „Beli Preletačević“ einen Protest- und Spaßwahlkampf gegen die Korrumpiertheit der politischen Klasse in Serbien geführt hatte. Alle übrigen Kandidaten, einschließlich des Ultranationalisten Vojislav Šešelj (4,5%) landeten weit abgeschlagenen auf den übrigen Plätzen.
Die Wahlen waren nur beschränkt fair, was an der faktischen Kontrolle des Premiers und seiner Regierungspartei über weite Teile der Medien und seiner dominanten Medienpräsenz gegenüber den anderen Kandidaten lag. Außerdem gab es nach den Wahlen aus dem Lager von Janković und der Oppositionsparteien Vorwürfe, wonach die Erreichung der absoluten Mehrheit durch Vučić im ersten Durchgang nur infolge massiver Wahlfälschungen zustande gekommen sei.
Auf diesem Hintergrund entwickelte sich in den Tagen nach den Wahlen eine spontane Protestbewegung gegen den Wahlsieg Vučićs. In Belgrad und vielen weiteren serbischen Städten demonstrierten über Wochen Zehntausende, vor allem junge Leute gegen angebliche Wahlfälschung und die nach ihrer Meinung zunehmend autoritären Züge des Regimes. Unter diese Kritik mischten sich mit der Zeit linkspolitische Forderungen nach sozio-ökonomischen Reformen, während sich die Demonstranten zugleich gegen jegliche Teilnahme politischer Parteien an den Protesten verwehrten. Zugleich blieben die Proteste ohne klar identifizierbare Führungspersönlichkeiten. Nach etwa zwei Monaten versiegten die Proteste weitgehend.
Am 31. Mai wurde Aleksandar Vučić in der serbischen Nationalversammlung als neuer Präsident Serbiens vereidigt. Mitte Juni nominierte er die bisherige Ministerin für öffentlicher Verwaltung und lokale Selbstverwaltung, Ana Brnabić als seine Nachfolgerin im Amt der Ministerpräsidentin. Die Wahl der parteilosen, Vučić loyalen Brnabić bestärkte politische Beobachter in ihrer Einschätzung, dass Vučić nach einem faktischen Präsidialsystem strebt, das mit den weitgehend repräsentativen Kompetenzen des Präsidentenamtes verfassungsmäßig nicht im Einklang ist. Dafür sprach, dass er angekündigt hatte, anders als sein Vorgänger und ehemaliger Ziehvater, das Amt des Vorsitzenden der Regierungspartei SNS nicht abgeben zu wollen. Tatsächlich bleibt die Regierungspolitik seither vom neuen Präsidenten und SNS-Vorsitzenden dominiert, während die Ministerpräsidentin insgesamt politisch blass bleibt. Die für die weitere politische Entwicklung so wichtigen Brüsseler Verhandlungen im politischen Dialog mit Kosovo werden unverändert von Vučić geführt.
Eskalation der Oppositionsproteste gegen das Regime Vučić
Am 17. März 2019 eskalierten die seit Monaten stattfindenden Bürgerproteste durch das gewaltsame Eindringen mehrerer Oppositionspolitiker und Parteianhänger in das Gebäude des Staatlichen Fernsehsenders RTS. Eineinhalb Dutzend Demonstranten wurden umgehend verhaftet und zum Teil in Schnellverfahren abgeurteilt. Die Demonstration war die fünfzehnte der seit dem 8. Dezember 2018 jeden Samstag stattfindenden in der Hauptstadt Belgrad und dutzenden anderen serbischen Städten stattfindenden Bürgerproteste.
Anlass war ein Anfang Dezember in der Stadt Kruševac stattgefundener Angriff auf den sozialdemokratischen Oppositionspolitiker Borislav Stefanović und zwei weitere seiner Parteikollegen bei einer Veranstaltung des Oppositionsbündnisse Savez za Srbiju, angeblich durch lokale Anhänger der Regierungspartei SNS, bei dem Stefanović verletzt worden war. Bei anschließenden, wöchentlichen Demonstrationen gegen den autoritären Führungsstil von Präsident Vučić nahmen serbienweit jeweils mehrere Zehntausend Menschen teil. Die Demonstrationen werden von Bürgern organisiert, die politischen Parteien bzw. der parteipolitischen Opposition kritisch gegenüberstehen. Demonstriert wird unter dem Slogan „Einer von 5 Millionen,“ der sich auf eine Aussage des serbischen Präsidenten bezieht, der zu den Protesten geäußert habe, dass er deren Vertreter auch dann nicht anhören würde, wenn 5 Millionen Menschen auf die Straßen gingen. Oppositionsvertreter nahmen deshalb zwar an den Protestdemonstrationen teil, exponierten sich aber bis Mitte März nicht.
Zugleich versuchen sie, aus den Demonstrationen gegen das Regime Vučić politisch Kapitel zu schlagen. So hatte das oppositionelle Bündnis als Reaktion auf die politischen Forderungen der Demonstranten ihren eigenen Forderungskatalog in Form einer sogenannter „Vereinbarung mit den Bürgern“ vorgelegt.
Vor der Mitte März stattgefundenen Eskalation der Proteste hatte die Opposition ihre Forderungen radikalisiert und den Rücktritt von Präsident und Regierung sowie Neuwahlen gefordert. Kritisiert wurde das Oppositionsbündnis von demokratischen Kräften in Serbien nicht nur wegen der Eskalation des Konflikts mit dem Regime durch das Eindringen der Demonstranten in das Fernsehgebäude, welches von Kritikern als Versuch gedeutet wurde, die Führung der Demonstrationen an sich zu ziehen. Sondern v.a. auch wegen des Zusammenschlusses von etablierten Oppositionsparteien aus dem links-liberalen Spektrum Serbiens mit der rechtradikal, ultranationalistischen Partei Dveri. Dessen Parteivorsitzender Boško Obradović spielte eine Schlüsselrolle in den Ereignissen des 17. März, Beobachter werteten diese als Versuch Obradovićs, die faktische Führung des Oppositionsbündnisses wie der Proteste an sich zu ziehen.
Trotz kämpferischem Auftreten von Präsident Vučić und hoher Regierungsvertreter, scheinen die eskalierenden Protests dennoch einen gewissen Eindruck auf das Regime gemacht zu haben. Kurz nach den Märzdemonstrationen kündigte der Präsident die Begnadigung eines Teils der wegen der Vorfälle verurteilten Beteiligten an.
Anstehende Neuwahlen und drohender Oppositionsboykott
Im Laufe des Jahres 2019 ist der Konflikt zwischen Opposition und Regierung weiter eskaliert, ohne dass eine Lösung der politischen Krise in Sicht wäre. Der Versuch von Teilen der serbischen Opposition, sich an die Spitze der im Winter 2018 von Bürger_innen spontan initiierten Proteste zu setzen, führte Anfang 2019 nicht zu einer Ausweitung der Demonstrationen, sondern zur Radikalisierung der Oppositionsproteste. Im Februar 2019 begannen so die an den Protesten beteiligten Parteien, die Sitzungen des serbischen Parlaments zu boykottieren. Die Abgeordneten der Opposition halten sich seitdem zwar weiterhin im Parlamentsgebäude auf, nehmen aber nicht an den Sitzungen Teil, sondern geben Pressekonferenzen.
Ab dem Spätfrühjahr ist es vermittelt von Teilen der serbischen Zivilgesellschaft an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad zu mehreren Konfliktlösungsgesprächen zwischen den Regierungs- und Oppositionsparteien gekommen, die allerdings ergebnislos verlaufen sind.
Im Laufe des Sommers hat sich der innenpolitische Konflikt weiter verschärft. Nachdem die Regierungspartei reguläre Parlamentswahlen für den März 2020 angekündigt hatte, haben die Mehrzahl der im Bündnis für Serbien zusammengeschlossenen Oppositionsparteien ihren Wahlboykott angekündigt, sollten die demokratischen Reformforderungen des Bündnisses, insbesondere jene zur Sicherstellung von fairen und freien Wahlen an die Regierung nicht erfüllt werden. Im September 2019 kündigte die Parlamentspräsidentin Gojković eine Vermittlungsmission des Europaparlaments an. Im Oktober und November fanden die ersten Vermittlungsgespräche, noch ohne nennenswerte Ergebnisse statt. Erste Ergebnisse brachte die dritte Gesprächsrunde im Dezember 2019. So wurde die Neubesetzung von 5 der 9 Mitglieder der Regulationsbehörde für elektronische Medien (REM) vereinbart, sowie eine gleichberechtigte Vertretung aller Parteien in der Wahlkampfberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTS – beides Maßnahmen zur Depolitisierung öffentlicher elektronischer Medien im Wahlkampf. Außerdem wurden Maßnahmen beschlossen, die verhindern sollen, dass Beamte und öffentliche Ressourcen im Wahlkampf eingesetz werden. Ob diese Vereinbarungen ausreichen, um einen Oppositionsboykott zu vermeiden, war zum Jahreswechsel 2019/2020 noch nicht absehbar, nicht zuletzt da der Großteil der Opposition, vereint im „Bund für Serbien“ nicht an den Vermittlungsgsprächen teilgenommen hatte.
Anfang März 2020 kündete der serbische Präsident die Ansetzung der Parlaments- und Kommunalwahlen für den 26. April an. Kurz zuvor hatte die Regierung die Änderung des Wahlgesetzes hinsichtlich der Senkung der Sperrklausel von 5 auf 3 Prozent für den Einzug von Parteien in die Volksvertretung. Sowohl die Opposition als auch die Vermittler des Europaparlaments kritisierten diese überraschende Initiative, die nicht nicht Teil der Vermittlungsgespräche gewesen war als undemokratisches Manöver.
Die Aktion bestärkte den Großteil der Oppositionsparteien in ihrem bereits vorher angekündigten Wahlboykott. Lediglich die an den Vermittlungsgesprächen teilgenommenen kleineren Partein kündigten ihre Teilnahme am Urgengang an. Auch innerhalb der größeren Oppositionsparteien regte sich Widerstand gegen den Boykott. So schlossen Abgeordnete von DS und SDS zum Wahlbündnis Srbija 21 (Serbien 21. Jahrhundert) zusammen, um an den Wahlen teilzunehmen. Zugleich kündigten die DS-Bürgermeister von Šabac und Paraćin, zwei der letzten Gemeinden, die von der Opposition kontroliert werden, ihre Teilnahme an den Kommunalwahlen entgegen des Boykottbeschlusses ihrer Parteiführung an. Die mittlerweile als Verein registrierte Protestbewegung „Einer von 5 Millionen“ vollzog eine Wende und kündigte ebenfalls ihre Teilnahme am Urnengang an.
Nachdem mit der Ausrufung des Ausnahmezustands Mitte März die Verschiebung der ursprünglich für Ende April angesetzten Wahlen einherging, entschied die Regierung nach der Aufhebung von lockdown und Ausnahmezustand Anfang Mai, dass die Wahlen endgültig am 21. Juni stattfinden.
Die Parlamentswahlen vom 21. Juni 2020: Serbien ohne Opposition
Die Parlamentswahlen vom 21. Juni wurden zum Triumf für die SNS von Präsident Vučić, stellten zur gleichen Zeit einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur Abschaffung der Demokratie in Serbien dar. Zum ersten Mal in der Geschichte des serbischen Mehrparteiensystems erreichten nur 3 Parteien (von den 21 zur Wahl zugelassenen Listen) mehr als 3% der Stimmen und schafften damit den Einzug ins Parlament: die SNS erzielte 60,4% der Stimmen und erreicht in der Volksvertretung eine klarre Zweidrittelmehrheit; der bisherige Koalitionspartner SPS erzielte mit seiner Liste 10,3 Prozent der Stimmen; als letzte zog der 2018 gegründete Serbisch-patriotische Bund SPAS des Bürgermeisters der Belgrader Gemeinde Neu-Belgrad Aleksandar Šapić mit 3,9% erstmals ins Parlament ein. Außerdem zogen 5 Minderheitenlisten über die für die Minderheiten gesicherten Mandate ins Parlament ein. Präsident Vučić schloss nach den Wahlen nicht aus, die Koalition mit der SPS fortzusetzen. Als zweite Option brach er eine sog. „Konzentrierte Regierung“ auf allen drei im Parlement vertreternen Partein SNS, SPS und SPAC, sowie einigen parteilosen Experten ins Spiel, wobei diese nur eineinhalb Jahre bis zu vorgezogenen Neuwahlen im Amt sein solle.
Der SPAS Vorsitzende Šapić erklärte seine Bereitschaft, in eine Regierungskoalition einzutreten. Damit wäre Serbien nicht nur faktisch, sondern auch formal ohne Opposition. Drei Monate nach den Wahlen hatte Präsident Vučić noch immer keine formellen Schritte zur Regierungsbildung unternommen bzw. bleibt unklar, wann diese zustande kommen wird und warum sich der Präsident und SNS Vorsitzende so viel Zeit lies. Schließlich entschied sich Präsident Vucic für eine Konzentrationsregierung. Am 24 Oktober 2020 wurde die neue Regierung Brnabic ins Amt gewählt, womit erstmals set der Einführung des Mehrparteiensystems 1990 Serbien ohne parlamentarische Opposition blieb.
Das Wahlergebnis signalisierte zugleich das Scheiterns des Wahlboykotts durch einen Teil der Opposition. Umfragen vor den Wahlen zeigten, dass nur ein kleiner Teil der Bürger Serbiens den Boykott unterstützte. Die Wahlbeteiligung lag bei 48-50%, und damit so niedrig, wie seit 2000 nicht mehr. Die niedrige Beteiligung dürfte allerdings in erster Linie Ausdruck von Hoffnungs- und Alternativlossigkeit gewesen sein. So weisen Umfragen darauf hin, dass bis zu 20% der Bürger sich eine politische Alternative zu den existierenden Parteien wünschen.
Laut internationalen und einheimischen Wahlbeobachtern der Zivilgesellschaft gab es zwei- bis dreimal soviel Unregelmäßigkeiten am Wahltag gegenüber den Wahlen von 2016 bzw. 2017, d.i. in 8-10 Prozent der Wahlkreise. Beobachter gehen allerdings davon aus, dass diese nicht das Wahlergebnis beeinflusst haben, sondern auf eine höhere als die reale Wahlbeteiligung abzielten. Zu den wichtigsten Unregelmäßigkeiten zählen u.a. Druck auf Wähler und Stimmenkauf. Zu den zentralen Unregelmäßgkeiten im Wahlkapf zählten eine massive Bevorzugung der Regierungsparteien in den Medien, aktiver Wahlkampf durch Regierungsvertreter und der Missbrauch öffentlicher Ressourcen.
Von den von der EU in den Vermittlungsgesprächen zwischen Regierung und Opposition diskutierten und teils vereinbarten Reformen wurden praktisch keine für die Wahlen umgesetzt. Eine erweiterte Wahlbeobachtungsmission der OSZE kam infolge von Pandemie und der kurzfristigen Ansetzung des Wahltermins nicht zustande, stattdessen war die OSZE mit lediglich 8, in Belgrad stationierten Experten präsent.
Wegen Unregelmäßigkeiten ordnete die Wahlkommission für den 1. Juli Nachwahlen in ca. 3% der Wahllokale an, ohne dass es zu wesentlichen Veränderungen im Wahlergebnis kam. Komplette Neuwahlen wurden auch für die Wahl des Gemeindeparlaments der Stadt Šabac, der letzten Oppositonshochburg, angesetzt. Die Anfang September 2020 stattgefundenen Neuwahlen brachten wieder kein klares Ergebnis bzw. keine klare Mehrheit zwischen den beiden politischen Lagern – der SNS auf der einen Seite, und einem aus der DS hervorgegangenen oppositionellen Lager um den amtierenden Bürgermeister, Nebojša Zelenović. Während die SNS den Sieg für sich verbuchte, legte das Oppositionsbündnis erneut Protest gegen die Anerkennung der Wahlen in der Mehrzahl der Wahlbezirke bzw. für eine Wahlwiederholung ein.
Politische Skandale ohne Konsequenzen
Im Herbst und Winter wurde Serbien von einer Reihe politischer Skandale erschüttert, die alle die gleichen Charakteristika aufwiesen: Alle betrafen hochrangige Vertreter des Regimes; alle blieben sie ohne politische Folgen und zeigten so, wie weit das Machtgefüge in Serbien mittlerweile von systematischer Korruption durchzogen ist und es an politischer Verantwortlichkeit mangelt. Zunächst entzog die Universität Belgrad dem amtierenden Finanzminister Siniša Mali den Doktortitel, nachdem es seine Dissertation als Plagiat eingestuft hatte. Rücktrittsforderungen wurden von ihm und der Regierungschefin zurückgewiesen. Zugleich berichteten unabhängige Medien über die Fragwürdigkeit des Universitätsabschlusses von Innenminister Nebojša Stefanović, der offiziell einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften vom wirtschaftswissenschaftlichen Ableger in London der privaten serbischen Universität Megatrend hat, die aber in England gar nicht als Hochschule registriert ist.
Stefanović stand auch im Mittelpunkt eines weitreichenden Skandals um politisch protegierte Verkäufe des staatlichen Militärunternehmens Krušik, das seit Jahren roten Zahlen schreibt. Medien berichteten dank der Hilfe eines Whistleblowers aus dem Unternehmen, dass eine private Firma, für die der Vater von Stefanović tätig ist, Granatwerfer für einen Preis unterhalb der Produktionskosten erworben, und teuer in den Nahe Osten verkauft habe. Das Innenministerium ist zuständig für die Genehmigung von Waffenverkäufen. Trotz dieses Interessenkonfliktes und der Tatsache, dass Präsident Vučić bestätigte, dass Stefanovićs Vater für das Unternehmen tätig ist, negierte der Innenminister jegliche Verantwortung und zog keine Konsequenzen. Stattdessen wurde der Whistleblower zunächst verhaftet, und nach öffentlichen Protesten unter Hausarrest gestellt, ohne Anklage und damit rechtliche Grundlage. Parallel erließen die USA Sanktionen gegen einen angeblichen serbischen Waffenhändler, Slobodan Terzić, der zugleich Großspender der Regierungspartei SNS ist.
Schließlich wurde bekannt, dass die serbische Polizei auf dem Gelände des landwirtschaftlichen Großbetriebs von Predrag Kovulija eine der größten Marihuanaplantage, die jemals auf dem Westbalkan entdeckt wurde, ausgehoben hat. Das Unternehmen war Bezieher umfangreicher staatlicher Subventionen und der Besitzer Teil von Wirtschaftsdelegationen von Präsident Vučić auf Auslandsreisen. Die Opposition warf der Familie Vučić Verbindungen zu Kovulija vor, was vom Präsidenten zurückgewiesen wurde.
Corona-Krisenmanagement und autoritäre Tendenzen
Wie im Rest der Welt war auch in Serbien Politik und Staat ab März 2020 vollständig reduziert und fokussiert auf das Krisenmanagement der Corona-Pandemie. Im Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten im Westbalkan zeichnete sich dieses Management durch seinen stark populistisch autoritären Charakter aus.
Serbien hatte seinen ersten offiziellen Coronafall am 6. März und war von Anfang an stärker betroffen als die Nachbarstaaten der Region. Am 31. März waren in Serbien 900 Personen als mit dem COVID-19-Erregeer infiziert registriert, 23 von ihnen waren verstorben. Die ursprüngliche Reaktion der serbischen Politik bis Mitte März trug vergleichbare Züge mit populistischen Regimen in allen Teilen der Welt, bestimmt von Verharmlosung. So erklärte einer der medizinischen Berater der Regierung noch Ende Februar auf einer Pressekonferenz mit Präsident Vucic Corona zum „lustigsten Virus der Geschichte“ und riet serbischen Frauen zum Shopping in Mailand, weil es dort gerade große Rabatte gebe. Gesundheitsminister Zlatibor Lončar erklärte zur gleichen Zeit, dass das Coronavirus viel schwächer als eine normale Grippe sei und Präsident Vučić bestand noch nach Bekanntwerden des ersten Infektionsfalls in Serbien darauf, dass „täglich 25 Mal mehr Menschen an Moskitostichen sterben“ als an COVID-19.
Parallel zum Herunterspielen der Gesundheitsbedrohung liefen die Vorbereitungen für die zum 26. April angesetzten Parlaments- und Kommunalwahlen auf Hochtouren. Nachdem die Regierung in den Tagen zuvor bereits erste Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie getroffen hatte, vollzog sie mit der Verhängung des Ausnahmezustands am 15. März eine drastische Kehrtwende hin zur radikalen Maßnahmen. Ein weitgehender Lockdown wurde beschlossen mit zeitlich beschränkten Ausgangssperren für die gesamte Bevölkerung und eine fast komplette Ausgangssperre für ältere Menschen ab 65 Jahren. Alle Geschäfte mit Ausnahmen von Supermärkten und Apotheken wurden geschlossen, der öffentliche Nah- und Fernverkehr weitgehend eingestellt, die Grenzen außer für Warenverkehr geschlossen. Unternehmen wurden angewiesen, soweit wie möglich ihre Mitarbeiter ins Home Office zu schicken. Massive Strafen inklusive Gefängnisstrafen bei Verletzung der Auflagen wurden verhängt. Die Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.
Die Ausrufung des Ausnahmezustands wie die beschlossenen Maßnahmen zur Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten der Bürger und Bürgerinnen Serbiens beschädigten massiv Rechtsstaatsprinzipien und waren fast durchweg ohne verfassungsrechtliche Grundlage. So wurde die Entscheidung zur Ausrufung des Ausnahmezustands anstatt vom Parlament von Präsident, Premierministerin und Parlamentspräsidentin mit der verfassungsrechtlich nicht haltbaren Begründung getroffen, das Parlament sei in Zeiten von Corona nicht in der Lage, zusammen zu treten. Auch eine nachträgliche verfassungskonforme rechtliche Sanktionierung durch das Parlament blieb aus. In der Entscheidung fehlte die zwingend notwendige inhaltliche Begründung wie eine zeitliche Befristung des Ausnahmezustands. Während die Regierung in halbwöchentlich geänderten Erlassen die Bestimmungen des Lockdowns regelte bzw. änderte, gründeten sich die weitgehenden Ausgangssperren auf Entscheidungen des Innenministeriums, das dafür keinerlei verfassungsrechtliche Kompetenzen hat. Schließlich bestehen serbische Juristen darauf, dass die fast vollständige Ausgangssperre für ältere Menschen grundsätzlich verfassungswidrig sei, weil sie das Recht auf Bewegungsfreiheit nicht nur einschränke, sondern quasi vollständig abschaffe.
Zugleich haben Regierung und Justizministerium mit Eingriffen in die Justiz hinsichtlich der juristischen Verfolgung von Verletzungen der Krisenmaßnahmen wie der Ausgangsbeschränkungen Rechtsstaatsprinzipien verletzt. So wurde auf die Beschleunigung von Gerichtsverfahren durch Videositzungen gedrängt, Strafen mit rückwirkender Anwendung eingeführt, die Mehrfachverurteilung für den gleichen Tatbestand ermöglicht und das Einspruchsrecht gegen bestimmte Urteile für die Zeit des Ausnahmezustands suspendiert.
Coronamaßnahmen wurden außerdem zur Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit benutzt. Ein Dekret, das Strafen für die Verbreitung von Falschnachrichten vorsah, führte zur Verhaftung einer Journalistin in Novi Sad, die über den Mangel an Schutzausrüstung im dortigen Krankenhaus berichtet hatte. Die Journalistin wurde nach Protesten von nationalen und internationalen Journalistenverbänden und lokaler Zivilgesellschaft schnell wieder freigelassen. Daneben wurden nach einiger Zeit Journalisten von den Regierungspressekonferenzen ausgeschlossen und konnten nun ihre Fragen nur noch online einreichen. Außerdem wurde die im Informationsfreiheitsgesetzt verankerte Auskunftspflicht staatlicher Institutionen gegenüber Medien faktisch ausgesetzt.
Eine drastische außenpolitische Wende vollzog Präsident Vucic in der Koronakrise Mitte März. So kritisierte er heftig die – später für die Westbalkanländer zurück genommene – Entscheidung der EU Kommission über einen Exportstopp für medizinische Schutzausrüstung mit den Worten, die europäische Solidarität sei „nicht existent“ bzw. ein „schönes Märchen“, und erklärten, Rettung können nun nur von China kommen.
Er habe Präsident Xi Jingping einen Brief geschrieben, offenbarte Vucic, in dem er China um Unterstützung gebeten habe und ihn als „Freund und Bruder“ Serbiens benannt habe. Am 21.3. nahm der Präsident am Belgrader Flughafen – einmalig- eine Maschine mit Hilfsgütern und chinesischen Pandemieexperten in Empfang. Letztere sollten bei der Umsetzung der Pandemiebekämpfung nach (autoritärem) chinesischem Vorbild federführend beratend tätig werden, tatsächlich blieb es aber weitgehend bei der medienwirksamen Inszenierung. Die wesentlich umfangreicheren Hilfen der EU in Höhe von 7,5 Mio. Euro und weiteren 93,4 Mio. Euro fanden hingegen wesentlich weniger politische und mediale Beachtung, während die tatsächliche Höhe chinesischer Hilfslieferungen im Unklaren bleibt.
Ebenso radikal wie die serbische Regierung bei der Verhängung der Corona-Schutzmaßnahmen vorging, erfolgte Anfang Mai die Kehrtwende: nachdem die Zahl der Neuinfektionen auf ein niedriges Niveau gefallen waren, erfolgte praktisch über nach die Aufhebung nahezu aller Einschränkungen, indem am 4. Mai der Lockdown komplett aufgehoben wurde und zwei Tage später per Parlamentsentscheidung der Ausnahmezustand, sowie ein neuer Termin für die verschobenen Parlamentswahlen angesetzt wurde.
Eskalierende Bürgerproteste gegen das Krisenmanagement und Polizeigewalt
Frustrationen in Serbien über das angeblich politisierte Krisenmanagement der Regierung brachen sich, befeuert durch eine neuerliche Explosion der Infektionszahlen, Anfang Juli in landesweiten Bürgerprotesten Bann. Dass die Zahl an Infektionen nur in der kurzen Periode von etwa sechs Wochen von der Aufhebung des Ausnahmezustands und dem Beginn des Wahlkampfs Anfang Mai für die zunächst coronabedingt verschobenen Parlamentswahlen bis direkt nach dem triumphalen Wahlsieg der Partei von Präsident Vučić Ende Juni unter Kontrolle waren, nährte diese Interpretation. Die praktisch komplette Aufhebung aller Schutzmaßnahmen über Nacht war gefolgt von Massenveranstaltungen wie Wahlkampfveranstaltungen der regierenden SNS oder das Belgrader Stadtderby der beiden Fußballklubs Roter Stern und Partisan mit 25.000 Zuschauern – ohne Einhaltung von Mindestabstand oder dem Tragen von Masken.
Die massiv Wahlkampf betreibenden Regierungsmitglieder wie der Präsident warben mit der vermeintlich erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie, personalisiert wie alle offizielle Politik in der Führungsperson von Vučić. Direkt nach dem Wahltag berichteten die Behörden zum ersten Mal wieder von steigenden Infektionszahlen. Zugleich veröffentlichten unabhängigen Medien Berichte, nach denen die tatsächlichen Todeszahlen mehr als doppelt so hoch seien, wie offiziell behauptet. Während diese Berichte im Juni noch von der Regierung zurückgewiesen wurden, musste Ende September ein Mitglied des Regierungsstabs der serbischen Regierung eingestehen, dass die tatsächlichen Todeszahlen im Juni dreimal so hoch gelegen hätten als offiziell angegeben. Er schob diesen „Fehler“ auf die Einführung eines neuen Informationssystems. Seit Ende Juni und im Verlauf des Juli stiegen die täglichen Zahlen an Neuinfektionen zunächst erneut auf über einhundert, und später auf bis zu nahezu fünfhundert an. In einzelnen Städte wie Novi Pazar in der Region Sandžak aber auch in Belgrad drohten Kapazitätsengpässe in Krankenhäusern bzw. traten diese ein.
Auch hochrangige Vertreter von Staat und der Regierungspartei SNS, die an einer Wahlparty unter Missachtung jeglicher Schutzmaßnahmen teilgenommen hatten, infizierten sich mit dem Coronavirus, darunter Verteidigungsminister Vulin, der Kosovobeauftragte der Regierung Đurić und die Parlamentspräsidentin Gojković.
Die explodierenden Infektionszahlen brachten die Regierung in Zugzwang. Am 7. Juli verkündete der Staatspräsident auf einer Pressekonferenz die Wiedereinführung einen strikten Lockdowns für Belgrad, eine Ankündigung, die viele Bürger erzürnte. Bereits in den Tagen davor hatten Studentenproteste in Belgrad die Regierung von ihrem Plan abgebracht, die Studentenwohnheime zu schließen, um sie für die Coronanotversorgung umzufunktionieren. Nun gingen in Belgrad und in den folgenden Nächten in diversen weiteren serbischen Städten zehntausende Bürger auf die Straße. Sie protestierten gegen die Ankündigung wie das Coronamanagement insgesamt, und forderten, es in die Hände von Gesundheitsexperten zu legen. Umfragen hatten bereits gezeigt, dass eine Mehrheit der Bürger dem Krisenmanagement und der Informationspolitik der Regierung misstraut.
Zugleich gerieten die Demonstrationen erneut zum Protest gegen den autoritären Führungsstil des Regime Vučić. Die Zusammensetzung der Demonstrierenden war aber insgesamt heterogen und umfasste auch rechtsnationalistische Gruppierungen und Hooligans. Letztere wurden für Gewaltexzesse gegen die Polizei am ersten und anderen Abenden und die kurzzeitige Stürmung des serbischen Parlaments am 7. Juli verantwortlich gemacht. Die Polizei, die Sondereinheiten zum Einsatz brachte, antwortete zunächst ebenfalls mit, wie Nichtregierungsvertreter und internationale Organisationen behaupteten, exzessiver Gewaltanwendung. Teile der Opposition und der Demonstranten beschuldigten die Regierung, sie hätte gewaltsame Extremisten in die Demonstrationen eingeschleust, um die Proteste zu diskreditieren. Der Staatspräsident beschuldigte ausländische Geheimdienste und angeblich aus den Nachbarländern eingeschleuste Kriminelle für die Unruhen. Beides blieb unbewiesen.
Die Proteste kamen nach einigen Tagen landesweiter Demonstrationen zum Erliegen. Politische Beobachter sehen die Ursachen für das Scheitern der Proteste in ihrer ideologischen Heterogenität und dem Fehlen politischer Führungskräfte, die einen solchen Protest kanalisieren und anführen könnten.
Außenpolitik, EU-Integration
Serbiens außenpolitisches Lavieren
Serbiens außenpolitische Orientierung ist Ausdruck eines Spannungsverhältnisses zwischen der stattfindenden demokratischen Transformation und dem ideologischen Erbe des Nationalismus aus den 1990er Jahren. Die überwiegende Mehrheit der politischen Eliten und Bevölkerung sieht ihr Land als Teil Europas und des Westens und unterstützt die euro-atlantische Integration Serbiens. Eine Mehrheit unterstützt das zentrale Ziel der Politik der aktuellen Regierung, die EU-Mitgliedschaft. Offen bleibt z.Z. die Frage einer Nato-Mitgliedschaft – auf der einen Seite ist sie Teil der euro atlantischen Integration, auf der anderen steht die Erfahrung mit dem Krieg gegen die Nato um das Kosovo 1999.
Der eindeutig positiven Einstellung zur Europa- und Westbindung Serbiens steht ein eigentümlich positives Verhältnis zu Russland gegenüber: es ist stark emotional-national gefärbt, was dem Verhältnis eine Schieflage verleiht, da auf der anderen Seite die russische Betonung der slawischen Brüderlichkeit reinem machtpolitischem und ökonomischem Kalkül zu folgen scheint.
Das positive Verhältnis zu Russland zementierte sich insbesondere während der 1990er Jahre als Russland sich in den Balkankriegen konsequent auf die Seite Serbiens stellte. Russland unterstützte Serbien 2006-08 in der Ablehnung der staatlichen Unabhängigkeit Kosovos und der Verhinderung der Sanktionierung des Friedensplans des UN-Vermittlers Ahtisaari durch den Sicherheitsrat. 2008 unterzeichnete Serbien einen Vertrag mit Russland, der die enge energiepolitische Verflechtung der beiden Staaten besiegelte. Serbien stimmte dem Bau der Gaspipeline Southstream über serbisches Staatsgebiet im Gegenzug für zukünftige Durchleitgebühren zu. Zugleich wurde das staatliche Ölunternehmen NIS an eine Tochtergesellschaft von Gasprom verkauft.
Durch die Ukrainekrise ist die serbische Regierung in eine schwierige geopolitische Lage geraten: Einerseits hat sie sich für die Integration in die EU entschieden und verpflichtet sich im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zur Harmonisierung ihrer Außenpolitik mit der der Union; zugleich hat sie kein Interesse an einem Abweichen vom traditionell guten Verhältnis zu Moskau, nicht zuletzt auch aus Gründen ökonomischer Abhängigkeit. So hat die Regierung in Belgrad einen Mittelweg gewählt – sie hat vorsichtig Kritik an der Unterminierung der Souveränität der Ukraine geübt, ohne dabei zugleich direkt Kritik an Moskau zu üben und ohne sich den Sanktionen der EU gegen Russland anzuschließen.
Dass dieser Spagat Serbiens europäische Partner irritieren sollte, ohne dem Land einen Gewinn an außenpolitischer Souveränität einzubringen, zeigte sich im Verlauf des Herbstes 2014. Am 16. Oktober empfing Belgrad den russischen Präsidenten zu einer Militärparade anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung der serbischen Hauptstadt von der nationalsozialistischen Besatzung, wobei die Feierlichkeiten um 4 Tage vorverlegt wurden, um sie an Putin’s Reiseplanung anzupassen. Ungeachtet dieser demonstrierten Verbundenheit mit Russland kündigte Putin während eines Staatsbesuchs in der Türkei am 1. Dezember übrraschend die Aufgabe des Pipelineprojekts Southstream an – wie sich an den Reaktionen zeigen sollte ohne die Repräsentanten der serbischen Regierung im Vorfeld zu informieren.
Für neuerliche Irritationen sorgte nach den Parlamentswahlen von 2016 Premier Vučić durch eine offiziell als privat deklarierte Reise nach Moskau Ende Mai, auf der er sich u.a. mit dem russischen Präsidenten Putin getroffen hatte. In den letzten Jahren hat die russische Regierung ihre soft power-Instrumente in Serbien massiv ausgebaut. So sind nach einer Studie von 2016 in Serbien über hundert russische Organisationen tätig, darunter allein etwa 30 Medien.
Ende Oktober 2019 hat die serbische Ministerpräsidentin Brnabić trotz Kritik der EU ein Freihandelsabkommen mit der von Russland angeführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) unterzeichnet. Das Abkommen ersetzte die bisherigen bilateralen Handelsabkommen, die Serbien mit Russland, Kasachstan und Weißrussland unterhalten hatte, und dehnt diese auf alle Mitgliedsstaaten der Union aus. Kritik kam aus der EU. Kommissionsvertreter stellten klar, dass Serbien mit der angestrebten Mitgliedschaft in der EU aus dem Abkommen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion aussteigen müsse.
Belastet wurden die serbisch-russischen Beziehungen im November 2019 durch die sogenannte Spionageaffäre. Ein im Internet aufgetauchtes Video zeigte eine nächtliche Geldübergabe auf einem Parkplatz in Belgrade, angeblich zwischen einem russischen Botschaftsangehörigen und Mitglied des russischen Militärgeheimdienstes GRU und einem Angehörigen des serbischen Geheimdienstes. Laut Präsident Vučić bestätigte die Identität des russischen Geheimdienstlers, bestand aber darauf, dass die Aufnahme bereits aus 2018 stamme, und einen pensionierten Angehörigen der serbischen Armee zeige. Auch habe der russische Spion mindestens 10 weiteren Militärangehörigen Geld übergeben. Bei aller Kritik betonte der serbische Präsident, dass die Politik seines Landes gegenüber Russland sich nicht ändern werde, und er davon überzeugt sei, dass der russische Präsident Putin über die Aktionen seines Geheimdienstes nicht informiert gewesen sei.
Serbien unternahm Ende 2019 weitere Intiativen zur Vertiefung des Verhältnisses mit Russland in der militärischen Kooperation, die westliche Gegenreaktionen provozierten. So hielten die beiden Länder Ende Oktober die gemeinsame Militärübung „Slawisches Schild 2019“ in Serbien ab. In diese kamen auch die russischen Flugabwehrsysteme Pancir S-1 und S-400 zum Einsatz – das erste Mal außerhalb Russlands (wie der von Russland annektierten Krim). Im Nachgang kaufte Serbien das Pancir-System. Eine Ankündigung von Präsident Vučić, auch das S-400-System kaufen zu wollen, nahm das Staatsoberhaupt nach amerikanischen Sanktionsdrohungen wieder zurück. Im Vorfeld eines Staatsbesuchs von Vučić bei Putin in Moskau Anfang Dezember lieferte Russland vorzeitig von Serbien bestellte und bezahlte vier Mi-35M Hubschrauber aus.
Die Texte stammen vom Länderportal der GIZ, welches vom Netz genommen ist. Die Autorin heisst Dr. Azra Dzajic-Weber, studierte und promovierte in Germanistik und Slawistik an der Georg-August-Universität Göttingen. Die GIZ und der Autorin ist informiert worden, dass die Infos auf meiner touristischen Länderseite zu Serbien veröffentliche.